Mount McKinley 6193m, Alaska
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Von Ulrich Schum

Auch heute noch gilt der Mount McKinley in Bergsteigerkreisen als der kälteste Berg der Erde. Gewaltig und ästhetisch zugleich baut sich dieser Koloss aus Fels, Eis und Schnee leuchtend weiß über der dunklen Alaska-Tundra auf. Dahinter aber verbirgt sich auch der Berg, an dem sich die meisten tragischen Schicksale im Laufe seiner Besteigungsgeschichte abgespielt haben. Notwendiger Respekt und bestmögliche Vorbereitungen sind also zur Besteigung angesagt. Als der Herzog der Abruzzen, italienischer Bergsteigerfan, um die Jahrhundertwende seine berühmte Expedition nach Alaska zur Besteigung des Mount Elias (5400m) vornahm, brauchte er noch mehr als ein halbes Jahr für die An- und Abreise und für den Anmarsch zum Fuß des Berges. Die Zahl seiner Begleiter war zu Beginn weit über 30, und selbst die Gipfelmannschaft bestand noch aus 8 erfahrenen Leuten. Die Vorbereitungen zu dieser Expedition dauerte mehrere Jahre. Heutzutage braucht man für den eigentlichen Anmarsch von Europa bis zum Fuß des Kahiltna-Gletschers nur noch wenige Stunden. Frankfurt-Anchorage über den Pol, Anchorage-Talkeetna mit der Alaska-Railroad durch das wunderschöne, sommerliche, die kurze Wärme genießende Alaska und, wenn man Glück hat, von Talkeetna noch am selben Tag mit einem einmotorigen Gletscherflugzeug des erfahrenen Piloten Cliff Hudson bis zum Basislager am Kahiltna-Gletscher. Die Ausgangshöhe ist ca. 1700m am Fuß des 20 km langen Kahiltna-Gletschers. Die nächsten Tage ziehen wir den leicht ansteigenden Kahiltna-Gletscher bis zum Fuß des Windy-Corners mit schwerer Last empor. Wir müssen alle Strecken mindestens zweimal gehen, da wir gezwungen sind, Zwischendepots anzulegen. Zu diesem Zeitpunkt sind wir die einzige Gruppe, die sich im Gebirgsmassiv befindet. Das Gefühl des absoluten Verlassenseins ohne jede Hilfsmöglichkeit von außen wird überbrückt von unserem unabdingbaren Willen, den Gipfel zu erreichen. Am sechsten Tag erreichen wir das letzte größere Lager am Fuß des Westbuttress nach zweimaligem anstrengendem Anstieg durch das Windy Corner, das seinen Namen wegen der extrem starken Stürme zu Recht trägt. Hier werden nämlich die Windmassen an der gewaltigen Flanke der Westbuttress abgelenkt und durch den schmalen Einstieg des Windy Corner gelenkt. Von diesem Lager aus setzt der Gipfelsturm in zwei bis drei Tagen an, wobei nur noch kleine notdürftige Biwaks und Hochlager errichtet werden können. Der Weg führt über eine steile, ca. 50° ansteigende Eisflanke, die zeitweilig durch fixe Seile vorhergehender Mannschaften gesichert ist. Der weitere Anstieg führt über einen Felsgrat mäßiger Schwierigkeit, und das letzte Hochlager wird in einer breiten Senke unterhalb des Denali-Passes errichtet. Diesen bitteren Leidensweg mussten wir dreimal gehen, da wir jedesmal von den unerhörten Naturgewalten eines Wettereinbruches zur Umkehr gezwungen worden waren. Nur unserer außerordentlich guten physischen Kondition und unserem Willen, den Gipfel unter allen Umständen zu erreichen, ist es zu verdanken, daß wir nicht resigniert haben. Am Donnerstag, den 26. Juni 1975, 1 Uhr nachts, ist es dann soweit. Nach kurzer Lagebesprechung versuchen wir ein letztesmal den Gipfelsturm. Es ist eine klare, eiskalte, nahezu windstille Nacht. Anziehen, Suppe und Tee kochen ... Abmarsch. Vom tiefeingegrabenen Zelt ca. 500m in eine Senke und dann an der Gegenflanke 400 Höhenmeter Quergang zum Denali-Pass, den wir 2 1/2 Stunden später erreichen. Der Austritt aus der bis dahin beschatteten Querflanke in das gleißende Morgenlicht einer hellgelben Polarsonne, der Ausblick über den kilometerlangen Harper-Gletscher und Muldrow-Gletscher, die weite Sicht über eine nahezu geschlossene Wolkendecke mehrere hundert Meter unter uns, aus der nur die gewaltigen Gipfel dieses Massives ohne Begriff für Größe und Entfernung herausragen, waren für uns das größte, tief ins Bewusstsein eindringende Erlebnis unserer anstrengenden Reise. Vom Denali-Paß steigen wir nicht allzu steil, am Archdeacons Tower vorbei, in Richtung Südgipfel. Nahezu die ganze Zeit mit Blick auf das begehrte Ziel, werden die Schritte zu einer kleinen Anhöhe vor dem Gipfel immer langsamer. Für den Gipfelhang benötigen wir unsere letzten körperlichen und seelischen Reserven, die Schönheit der Landschaft um uns herum verblasst. Die Sinneswahrnehmungen werden immer schwächer, wie eine aufgezogene Uhr bewegen wir uns Schritt für Schritt zum Gipfel. Um 1 Uhr mittags stehen wir alle drei erschöpft, aber glücklich auf dem höchsten Gipfel Nordamerikas in 6193 Meter Höhe. Unbemerkt hat sich in der Zwischenzeit das Wetter verschlechtert. In wenigen Minuten bricht die Hölle los. Wir packen unsere Sachen ein und müssen nochmals alle Kräfte zusammennehmen, um nicht beim Abstieg ein Opfer des Wetters zu werden. Der Wind ist stellenweise so stark, daß wir uns mit Eisschrauben an dem Boden festbinden müssen. Nach weiteren 8 Stunden erreichen wir wieder unser Lager V und fallen erschöpft in unsere Schlafsäcke. Zwei Tage später sind wir wieder am Basislager am Fuß des Kahiltna-Gletschers und können freudig und glücklich unseren Gletscherpiloten - Cliff Hudson begrüßen, der uns nach drei Wochen Aufenthalt in der Eiswüste des Mount McKinley wieder zurück zu menschlichen Hütten nach Talkeetna fliegt. Während dieser Zeit haben wir über 120 km Fußmarsch und mit allem hin- und herpendeln über 22 000 Höhenmeter zurückgelegt. Wenn sich auch die technischen Mittel der Anreise und des Abfluges wesentlich verbessert haben, was den Marsch am Berg und den Gipfel betrifft, so hat sich seit 70 Jahren, seit den Zeiten der Mount-Elias-Expedition des Herzogs der Abruzzen, nichts geändert. Jeder muss den langen, bitteren und oft qualvollen Weg mit seinen eigenen Füßen gehen, spürt Hitze und Kälte gleichermaßen, das Gefühl des Verzweifelns und des Niedergeschmettertseins ist heute noch genau so wie damals, aber auch das hohe Glück und die unvergessliche Freude, wenn man dann auf dem lang ersehnten Gipfel steht.

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