Von Theo Hilz
Ich muss etwas eingenickt sein, als Willi mich anstößt, erschreckt fahre ich hoch, Willi
deutet wortlos nach unten. Meine Augen folgen seinem Zeigefinger, auf dem Meer unter uns
schwimmen Eisberge so groß wie Häuser, das Ziel ist bald erreicht. Meine nun wieder klaren
Gedanken erfassen der Reihe nach; ich sitze in einer Fokker Friendship der Greenland Air,
vor mir Seesäcke und Skier, neben mir die drei Freunde Uli Schum, Klaus Süß und Willi
Huber. Die beiden ersteren sind die Initiatoren unserer Expedition nach Ostgrönland.
Die Maschine setzt unsanft auf der geneigten Landebahn in Kulusuk auf. Trotz des Nieselregens
steigt unsere Stimmung augenblicklich, denn unser Expeditionsgepäck samt Spezialschlitten
stehen dort in einer Ecke. Der eigentliche Ausgangspunkt Angmagssalik ist nur per
Hubschrauber erreichbar, hier außer Hundeschlitten das einzige Verkehrsmittel. Da uns
leider nur der normale Jahresurlaub zur Verfügung steht, sind wir auf diesen angewiesen und
handeln mit der Greenland Air die Charterbedingungen dafür aus. Am 1. Juni 1979 ist es
dann soweit, Kisten, Schlitten, 4 Riesensäcke verschwinden im Rumpf, für uns bleibt kaum
noch Platz. Etwas schwerfällig, das zulässige Startgewicht ist ausgereizt, erhebt sich die
Libelle vom Boden. Anfang geht es noch der Küste entlang, dann Kursänderung in Richtung Inland.
Wir schweben über einer Wunderlandschaft, unvorstellbar weite Gletscherbecken, darüber

phantastische Berge. Es ist 20 Uhr abends, als unser geplanter Landeplatz mit den vorausberechneten
Koordinaten 67°02'N / 36°45'W und einer Höhe über NN von ca. 2000m erreicht ist. Der schwedische
Pilot stellt die Rotoren nicht ab, hat er Angst? Zumindest versteht er den Sinn unseres Tuns
sicher nicht. Ein letztes Winken und die Nabelschnur zur Zivilisation verschwindet im Abendhimmel.
Vier Menschlein samt 200 kg Gepäck stehen nun in der unendlichen Gletscherwelt Ostgrönlands, in
einem Teil, der bisher noch von keines Menschen Fuß betreten wurde. Bis Mitternacht (hier über dem
Polarkreis herrscht ja im Sommer die Mitternachtssonne) bauen wir unser Basiszelt auf, dann einige
Stunden totenähnlichen Schlafes. Am Morgen reiben wir uns verwundert die Augen und staunen mit offenem
Mund, eine sonnenüberflutete gleißende weiße Fläche bis zum Horizont, eingerahmt von "gachen Zapfen"
und über einem grandiosen Gletscherbruch wunderschöne Eispyramiden, ein Ziel für uns. Bereits am
nächsten Tag sind wir mit Riesenwolken von ca. 30 kg dorthin unterwegs. Das Wetter verschlechtert
sich, so bleibt uns nichts übrig, als uns für 2 Tage in die Hochtourenzelte zu verkriechen. Der
dritte Tag beginnt bereits um 2 Uhr früh, räumen, frühstücken, Zelte abbauen, bei -15 Grad gibt das
kalte Finger. Vorerst geht es noch mit Skiern, die bleiben jedoch am Steilaufschwung zurück.
Vorsichtig schwindeln wir uns durch das Spaltengewirr nach oben, teilweise müssen die Säcke
nachgeseilt werden. Endlich nach gut 7 Stunden ist die Hochfläche mit unserem vorgesehenen Lagerplatz
erreicht. Bereits um 15 Uhr kriechen wir in die Zelte, denn um Mitternacht erschallt wieder Ulis
Weckruf "Männer aufstehen" ! Um diese Zeit bin ich bereits wach, denn was wir heute erleben werden,
ist für mich und die Kameraden neu, den Fuß als erster auf einen Gipfel zu setzten, ohne Spuren von
Vorgängern wie Cola-Dosen oder Bonbonpapier. Das Gebiet unseres Wirkens nennen wir "Bayernland",
ebenso erhalten die umliegenden Berge ihren Namen. Das erste Ziel von uns "Hausberg" getauft, ist
bald erreicht, von dieser hohen Warte ergibt sich ein guter Überblick über die übrigen Gipfel. Die
Schneekuppe 2827m, ein Firngipfel von makelloser Schönheit, opfert uns ihre Jungfraulichkeit. Das
Sprichwort: "Aller guten Dinge sind drei" bewahrheitete sich allerdings nicht. Ein Felszapfen mit schönem
Zackengrat empfängt uns mit Schneesturm, der 2 Tage anhält. Unsere Igluzelte bewähren sich großartig,
die Glasfiberstäbe biegen sich wie Halme im Wind. Von Zeit zu Zeit befreien wir unser Stück Geborgenheit
vom Schnee. Willi und ich teilen uns einen "Wigwam", welch Gegensatz, Willi der "Ordentliche", auf
seiner Seite ist alles tadellos aufgeräumt und ich der "Schlampige", ich schlafe einfach auf dem Verhau,

während Willi schreibt, ordnet oder näht. Am Abend zeichnet sich Wetterbesserung ab, eine eigenartige
Wolkenstimmung, unserem Föhn vergleichbar, also wieder Mitternacht. Um 2 Uhr verlassen wir eingemummt
die Zelte. Über uns ein sternenklarer blauer Himmel, es ist saukalt, und ein eisiger Wind pfeift aus
Richtung Norden. Vor uns in bleicher Schönheit die Ziele von heute. In einer Scharte lassen wir die
Rucksäcke stehen und erklettern über einen schönen überwächteten Eisgrat den "Zwilling I", weiter
über den "Zwilling II" zum "Eckpfeiler", ein kurzer Abstieg führt uns zurück zur Scharte. Von hier
leitet eine mäßig steile Eisflanke auf den heutigen höchsten Punkt die "Pyramide". Unter uns steht
noch ein Gipfel mit einer 600m hohen Eiswand, von der Scharte über einen kurzen schneidigen Grat
erreichbar, den nehmen wir noch mit und nennen ihn zu Ehren unseres viel zu früh verstorbenen Freundes
"Fritz Renner Berg". Mit einer Ausbeute von fünf Erstbesteigungen sind wir bald darauf wieder bei den
Zelten. Am nächsten Tag ist die Seilschaft bereits wieder um 2 Uhr unterwegs. Das heutige Ziel wird
zu Ehren unsers ruhmreichen Clubs "Waxenstein" getauft. Wir steuern auf eine Eisrinne zu, die direkt
zum Gipfel führt. Die Sicherungsmöglichkeiten sind sehr mangelhaft, in diesem spröden Eis halten
keine Schrauben, nicht daran denken! Zuletzt leitet ein messerscharfer Felsgrat zum Gipfel, geschafft!
Überglücklich hissen wir unseren "ACW"-Wimpel. Ein Blick in die Runde, ja hier ist alles bestiegen,
morgen geht's zurück zum Basislager. Kurz nach mittag des nächsten Tages stehen vier Gestalten, braun
im Gesicht und weiß am Körper, nackt im Schnee und reiben sich ab. Ja und endlich gibt es auch wieder
etwas anderes zu essen als gefriergetrocknetes Zeug. Tags darauf widmen sich Klaus und ich einer
Tätigkeit, die hier sicher auch zum ersten mal praktiziert wird; mit einem mitgebrachten Theodolithen
vermessen wir unsere bestiegenen Gipfel. Das vorhandene Kartenmaterial ist mehr als dürftig, das ganze
Gebiet nur ein einziger weißer Fleck. Der Rest der Mannschaft packt unser ganzes Zeug in die

mitgebrachte Alukiste, schnallen sie auf den Schlitten und bauen aus einem Seil ein Geschirr für ein
"Vierergespann". Unser Quartett will von hier aus in vier bis fünf Tagesmärschen auf diese Weise zum
Mt. Forel gelangen. Bereits kurz nach 2 Uhr des nächsten Tages stehen 4 "Zugochsen" zweispännig im
Geschirr. Mit einem kräftigen "Hauh" setzt sich das seltsame Gefährt in Bewegung. Über Stunden ist
nur noch das rhythmische Klicken der Skibindungen zu hören. Jetzt spüren und erleben wir die
unheimliche Ausdehnung des "Bayernlandes" (ebenfalls von uns so getauft). Nach 9 Stunden ist Schluss,
ein Blick zurück, keine nennenswerte Entfernung überwunden. Willi klagt über Schmerzen in der Brust,
er hat sich vermutlich aus falschem Ehrgeiz zu fest in die Riemen gestemmt. Tagsüber weicht die Sonne
den Schnee etwas auf, das bewog uns dazu, nachts zu gehen. Bereits um Mitternacht brennt bei Willi und
mir im Zelt der Kocher, um Tee für das Frühstück und den Tag zu bereiten, es dauert ewig, bis aus Harsch
kochendes Wasser wird. Die Temperatur liegt bei -15° und der Wind pfeift ganz gehörig, die ganze
Schneefläche ist in Bewegung und verwischt die Spuren der Eindringlinge in Sekundenschnelle. Heute
sehen wir sogar einige Gletscherspalten, Vorsicht ist also geboten. Der erste geht das Seil aus, der
letzte sichert, die beiden mittleren benutzen Seilklemmen, dann folgt der Schlitten. Gottseidank
braucht dieses Manöver nicht oft exerziert werden. Am vierten Tag unserer "Ochsentour" ist das
"Vindhuet" erreicht. Der Mt. Forel 3360m, ein Riesenklotz am Rande des Inlandeises, bisher dreimal
bestiegen, baut sich majestätisch vor uns auf. Der vorgesehene Lagerplatz am Südfuß des Berges ist
zwar windgeschützt, die Stürme am Forel sind jedoch gefürchtet, also werden die Zelte fast eingegraben.
Das Wetter ist noch recht passabel, so werden wir bereits morgen unseren Besteigungsversuch starten.
Wir rechnen uns über die Südwand die meisten Chancen aus: der Bergschrund ist an einer Stelle gut
zu überwinden, die folgende Eisflanke hat sicher nicht mehr als 50° und die senkrechte Eiskappe ist
über einen Felsgrat zu überlisten. Bereits um Mitternacht sind wir startklar, für die ersten 100
Höhenmeter sind sogar die Skier noch brauchbar. An der Randkluft legen wir die Zwölfzacken an,
diese läßt sich wie erwartet spielend bewältigen. Das makellose Weiß über uns beginnt mit ca. 40 Grad,
steilt sich aber dann über 50 Grad auf, das schlimme daran, es ist keine zuverlässige Sicherung
anzubringen, das Eis ist glashart und Ulis Pickel verbiegt sich beim Schlagen der Standstufen. Allen
ist etwas flau im Magen. Jetzt im Fels gehe ich voran, dieser ist griffig und eine Freude, hier zu
klettern. Von unserem Vorgänger Miahara finde ich noch Seilschlingen aus dem Jahre 1972. Bald ist die
flache Eiskappe erreicht. Wortlos, einer Prozession vergleichbar, streben vier Freunde dem höchsten

Punkt zu und nach 9 Stunden stehen wir überglücklich am Mt. Forel 3360m hoch. Es ist die vierte
Besteigung überhaupt; die ersten waren Schweizer 1938, 1969 und 1972 Japaner. Der Ausblick von dieser
hohen Warte ist kaum zu beschreiben. Im Osten eine schier unendliche Zahl noch nicht bestiegener Gipfel, nein,
dort ganz klein das "Bayernland", der Blick in die Gegenrichtung, ohne Halt fürs Auge - ein weißer
Horizont - das Inlandeis. Bis Mittag sitzen wir hier, schauen und staunen, nur mit dem Teekochen
klappt es wieder nicht, lauwarmes Wasser rinnt durch ausgedörrte Kehlen. Für den Abstieg bietet
sich der Grat in seiner ganzen Länge an, von der Scharte leitet dann eine ca 150m hohe Eisflanke
zum Bergschrund hinab. Bis zu dieser geht es auch problemlos, doch die Überraschung folgt schnell,
als ich versuche, die Eiswand abzusteigen. Die Frontzacken schlagen gegen blankes "Glas". Also mussten wir warten,
bis die Sonne des morgigen Tages das Eis etwas aufweicht. Die taghelle Nacht im Biwak will einfach kein Ende nehmen. Ein
beständiger Wind bläst uns Schnee ins "Bett". Gegen 8 Uhr
morgens scheint uns der Zeitpunkt für den Rückzug gekommen. Mit mehr als dürftiger Sicherung
schwindeln wir uns nach unten und mit einem Freudenschrei springen alle vier gleichzeitig über
die Randkluft, geschafft und wieder sicheren Boden unter den Füßen. Unsere einzigen Wünsche für heute:
essen und schlafen. Die nächsten 2 Tage heult der Sturm, wie hold war uns doch der Wettergott.
Zu unserem Schrecken stellen wir fest, dass die Lebensmittel zur Neige gehen, also wenig bewegen und
viel schlafen. Nun schneit es nur noch lautlos, Uli und Willi gehen Richtung "Vindhuet", um den
Funkspruch "Bitte abholen"! abzusetzen. Dies funktioniert so: Ein über uns fliegender Jet dient
als Relaisstation, das heißt, der Pilot nimmt den Funkspruch auf und gibt ihn weiter nach Stromford
an der Küste, dort ist man über unser Vorhaben genau informiert. Tags darauf haben Klaus und ich
Funkdienst, wir horchen angestrengt in den Nebel, nichts, auch der Empfänger schweigt, plötzlich,
wir trauen unseren Ohren nicht, eine Stimme in deutsch - der Helikopter. Franz, so heißt der
österreichische Pilot, gibt uns zu verstehen, dass er mangels Sicht nicht landen kann.
"Nein bitte nicht", Klaus einigt sich mit ihm, dass er es in einer Stunde es noch einmal
probiert. Wie lange ist eine Stunde? Mir kam sie vor wie die Ewigkeit. Da ist er wieder, wir hören ihn,
können ihn aber nicht sehen. Klaus deutet ihm an, Franz solle zum "Vindhuet" fliegen. Da dieser Punkt
in seiner Karte nicht verzeichnet war - Franz hatte uraltes Kartenmaterial - gibt ihm Klaus, der selbst Pilot ist, genaue
Richtungszahlen. "Da ist er!" Gottseidank, rein in die Maschine und hinunter ins Lager. Die Zelte
fliegen fast davon, endlich steht der Rotor. In Windeseile ist alles im Bauch verstaut und los
geht's - das war knapp. Jetzt, da die Spannung gewichen ist, erleben wir den Flug durch die
Gletscherwelt und Fjorde als herrliches Erlebnis. Die Erinnerung an das eben erlebte ist noch
taufrisch. Wir haben mehr erreicht, als wir je zu hoffen gewagt hatten. Es war jedoch nicht
ausschließlich unser Verdienst, das Glück war uns hold und bescherte uns durchwegs gutes Wetter,
es verschonte uns vor Unglücksfällen. Es war ein unvergleichbares Erlebnis, wie es deren im Leben
eines Bergsteigers wenige gibt. Die Vergangenheit läßt alle Mühen vergessen, was bleibt, ist
die Erinnerung.
Daten:
Teilnehmer : Uli Schum, Klaus Suess, Willi Huber, Theo Hilz
Zeitpunkt : 19. Juni bis 18. Juli 1979
Ausgangspunkt : Angmagssalik in Ostgrönland
Koordinaten Basislager: 67° 02' N / 36° 45' W
Erstbesteigungen: Hausberg 2641m
(Höhen von uns vermessen) Schneekuppe 2827m, Vorderer Zwilling 2841m, Hinterer Zwilling 2810m,
Eckpfeiler 2799m, Pyramide 2909m, Fritz Renner Berg 2710m, Waxenstein 3034m
Sonst. Besteigungen: Mt. Forel 3360m, 4. Besteigung, 1. Besteigung über die Südwand.