Erfüllung und Tragik am Grat über den Weiden
Von Ulrich Schum
Nach dem vorzeitig eingebrochenen Monsum 500m unterhalb des Gipfels des Manaslu (8156m),
der all meine Hoffnungen auf einen 8000er Gipfel zunächst zunichte machte, wollte ich es
1983 noch einmal wissen. Auf zum Shisha Pangma! Eine Wirtschaftsdelegation aus Bonn
hatte 1979 zwei Besteigungen dieses rein auf chinesischem (tibetischen) liegenden
8000ers erwirkt. Nach der chinesischen Erstbesteigung 1964 erfolgte dann 1980 die erste
der beiden genehmigten Expeditionen unter der Leitung von Günter Sturm. Es war die zweite
Besteigung des Gipfels. 1982 stand Reinhold Messner auf dem Gipfel. 1983 schließlich sollte
die vierte Besteigung durch uns erfolgen. Bergsteigerischer Leiter der Expedition war Sigi
Hupfauer. Teil 1 der Expedition bestand in einem längeren, interessanten und ebenso
unvergleichlich schönen Aufenthalt in Peking und Lhasa. Bedingt durch entsprechende

Vorbereitung und meine persönliche Bekanntschaft mit Seiner Heiligkeit des 14. Dalai
Lamas in Hamburg kurz vor Beginn der Expedition, vertieften sich meine Eindrücke besonders
von Lhasa. Nach dem Kulturprogramm in Lhasa, Shiga und Shigaze ging es dann zur Sache: 4t
Gepäck auf zwei Lastwagen verstaut, ein Jeep und ein Minibus für die 13 Teilnehmer verließen
Lhasa am 26. März auf staubiger Sand-und Steinpiste zu einer fast 1000-km-Etappe zum
Basislager am Fuße des Shisha Pangma. Ein viertägiger Kampf gegen Staub und Schmutz, Unbillen
der Natur und Technik, der für sich sprach. Gelobt sei was hart macht! Nach der Einrichtung
des Basislagers war die Mannschaft zunächst einmal erholungsbedürftig. Unser ausgezeichneter
chinesischer Koch, das zunächst noch verheißungsvoll schöne Wetter, allerdings bei Temperaturen
um -15°C, sowie die täglichen Eingehetappen in der Lagerumgebung bis zu 5400m ließen jedoch
Kräfte und Kampfgeist schnell wiederkehren. Eine angeheuerte Yakherde (Hochlandrinder)
brachten ca. 2 t Gepäck bis zu Lager I in 5600m Höhe - dicht oberhalb der Schneegrenze.
Hier begann für uns die eigentliche Arbeit des Aufstiegs. Kaum hatten wir jedoch Lager I
verlassen, um ein erstes Depot für Lager II in 6300m anzulegen, wurde das Wetter schlecht:
eisige Stürme, Temperaturen um -25°C und teilweise dichtes, stundenlanges Schneetreiben.
Eine Wettersituation, die uns leider bis zum Ende der Expedition nicht mehr verlassen hat.
Kurze, oft nur wenige Stunden anhaltende Wetterbesserung mußten wir nutzen, um unser Lager
höher hinaufschieben zu können. Schwierige und gefährliche Gletscher-, Fels- oder Eispassagen
wurden dabei mit Fixseilen versichert, um einen unvorhergesehenen Rückzug zu jeder Zeit schnell
und sicher durchführen zu können. Eine überaus harte und kräfteraubende Arbeit, an der in der
zweiten Woche bereits vier Teilnehmer physisch scheiterten. In 7000m Höhe meldete sich der
erste Teilnehmer mit schweren Erfrierungen an Händen und Füßen nach einem unfreiwilligen Biwak
unter freiem Himmel. Die Mannschaft schrumpfte zusehends unter den enormen Strapazen des
wetterbedingt schweren Aufstiegs. Dann - am 28. April in 7500m Höhe sollte uns der schwerste

Schlag treffen: Fritz Luchsinger, der Schweizer Teilnehmer - Heeresbergführer mit zwei
erfolgreich bestiegenen Achttausendern - starb innerhalb von wenigen Stunden an Erschöpfung
und akutem Lungenödem. Jede medizinische Hilfe hier oben mußte erfolglos bleiben. Ein letzter
Versuch, den kaum noch ansprechbaren Freund zu bergen, endete mit Verletzungen nach Sturz
zweier Teilnehmer. Als wir am 29. April nach einem gefährlich nächtlichen Höhensturm zum
Gipfel aufbrachen, waren wir nur noch zu viert: Dr. Gerd Schmatz-, das Ehepaar Walter und
ich. Die Verhältnisse waren, bedingt durch das anhaltende Schlechtwetter, mehr als ungünstig:
Blankeis, Preßschnee und tückische Wächten. Nach einem zehn-stündigen Aufstieg, der alles
von uns abverlangte, erreichten wir gegen 20 Uhr den Gipfel des Shisha Pangma: das Ehepaar
Walter und ich. Gerd Schmatz war am Vorgipfel umgekehrt. Grund genug zur Freude hatten wir
allemal : die Walters als erstes Ehepaar; ich als erster Norddeutscher auf einem Gipfel über
achtausend Meter. Die Vollmondnacht erlaubte einen relativ sicheren Rückzug bis Lager IV
in 7500m Höhe, das wir erschöpft und ausgelaugt gegen Mitternacht erreichten. Ein großartiger
persönlicher Erfolg für uns, der aber - wie wir jetzt feststellen mußten - mir erheblichen
Erfrierungen an Zehen- und Fingerspitzen erkämpft werden mußte. Angeschlagen, aber doch
überglücklich begannen wir tags darauf den Abstieg. Wir hatten regelmäßigen Funkkontakt
mit Lager I. Dort warteten unsere vier Sherpas, Sigi Hupfauer und Heini Koch, die sich beide
beim Abtransport von Fritz Luchsinger verletzt hatten. Wegen der schlechten Sicht- und
Wetterverhältnisse verkürzten wir die Funkzeiten und meldeten uns alle vier Stunden, da
Sigi und Heini ja nicht mehr eingreifen konnten. Langsam, aber sicher kamen wir tiefer.
über Lager III, wo wir nochmals übernachteten, zu Lager II, wo wir eine zweistündige
Ruhepause einlegten, schließlich zu Lager I, von wo aus uns vier Sherpas entgegen kamen,
um uns die letzte Stunde nach Lager I zu begleiten. Trinken, trinken, schlafen, schlafen
- das waren unsere einzigen Wünsche. So quälten wir uns mit nun immer schmerzhafter

werdenden Erfrierungen hinunter zum Basislager, wo uns der Begleitoffizier, der Dolmetscher
und die gesamte Küchenmannschaft begeistert in Empfang nahmen. Sie hatten ein großes
Festessen vorbereitet: Reiswein und -schnaps wurden gleich in Zahnputzbechern und Tassen
gereicht, Trinksprüche und Toaste wechselten einander ab, und die Pressemitteilung wurde
aufgesetzt - das alles ließ uns erstmals mit Bewußtsein erkennen, daß wir etwas geleistet
hatten, und half uns für eine kurze Zeit, unsere Schmerzen zu vergessen.
Am 2. Mai begann der Rückzug vom Basislager nach Lhasa. Was es heißt, zu neunt mit Gepäck
und Erfrierungen im Jeep annähernd
1000 km über unbefestigte Straßen zu 'stolpern' , das kann nur der ermessen, der es
miterleben mußte. Der Flug über Shengdu nach Peking war dagegen fast eine reine Wohltat.
Beim Abendessen auf dem Flughafen in Peking überreichte uns der Präsident des chinesischen
Bergsteigerclubs (CMA) Blumen-gebinde und Urkunden über die erfolgreiche vierte Besteigung
dieses Berges - am Grat über den Weiden. Für mich war hier ein langgehegter Traum in
Erfüllung gegangen. Ihn nochmals wiederholen, oder gar übertreffen zu wollen hieße, eine
gefährliche Herausforderung aufzunehmen, die mich noch dazu in meinem bergsteigerischen
Werdegang nicht weiterbringen würde. Sie war eben eines dieser 'once in the life adventures'.