Von Ulrich Schum
4. Juli 1989, 12. Tag auf dem Inlandeis. Wir sitzen fest. Seit 24 Stunden hämmert
der Wind an unseren Zeltwänden. Minus 10°C im Innern des Zeltes. Draußen sinkt
das Thermometer auf minus 26°C. Das Anemometer zeigt knapp 90 km/h Windgeschwindigkeit.
Ein Ausläufer eines tropischen(!) Wirbelsturms nagelt uns hier auf der Eiskappe fest.
47° 10' W / 64° 32' N, etwa 90 km vom Eisrand der Westküste entfernt. Endloses Warten.
Blick zurück... Vor genau 101 Jahren hat der norwegische Polarforscher und spätere
Nobelpreisträger Fridtjof Nansen mit fünf Kameraden das Eiscape erstmals durchquert.

42 Tage waren sie unterwegs von Osten nach Westen: Zu Fuß oder mit Ski zogen sie ihre
schweren Schlitten durch den Schnee. Grönlands Inneres war seinerzeit noch "terra
incognita", unbekannt und unvermessen. Am 26. September erreichte die Mannschft nach
unsäglichen Strapazen und Entbehrungen das kleine Eskimodorf Kapisigdlit an der
Westküste. Jetzt, 101 Jahre später, suchen wir erneut die Herausforderung. Sie steht
in einer neuen Logistik: Satellitennavigation anstatt der herkömmlichen aufwendigen
und oft fehlerhaften terrestrischen und astronomischen Navigation und Sextanten, extrem
leichter, windschnittiger Schlitten, ausschließlicher Pulvernahrung, modernster
Faserkleidung - alles in allem: High Tech in Nahrung und Ausrüstung. Hinzu kommt die
Mitnahme modifizierter Mountain Bikes, die unter günstigen Eisverhältnissen ein
schnelleres Vorwärtskommen ermöglichen sollen. So wollen wir zu Beginn des 2.
Jahrhunderts der Grönlanddurchquerung neue Maßstäbe setzen. Eine Grönlanddurchquerung
ist eine mentale Sache: Literaturstudium, informieren, diskutieren, festlegen und
vorverarbeiten. Wieviele Expeditionen kommen zerstritten zurück, bekämpfen sich bis
'aufs Messer' oder gaben der Paranoika in der wochenlangen Einsamkeit nach.
Der Schlüssel zum Gelingen einer solchen Durchquerung liegt in der auferlegten
Selbstdisziplin, wobei nicht verschwiegen werden soll, daß diese Tour vor allem eine
Frage der Leidensfähigkeit darstellt! Eine drückende - ja bedrückende Stille herrscht

auf dem Inlandeis - nur unterbrochen vom Kratzen und Knirschen der Schlittenkufen,
ab und zu hustet einer. Geredet wird kaum. Vielleicht hin und da mal eine
Navigationshilfe. "Mehr rechts" oder "mehr links" brüllt man dem Vordermann
entgegen. Meist umsonst, da Fellmütze, Gesichtsmaske und Sturm die Verständigung
selbst über wenige Meter unmöglich machen. Jeder von uns ist mit sich selbt
beschäftigt. Alles läuft nach Plan; jede Stunde wird an der Spitze gewechselt,
3 bis 5 Minuten Pause, ein Schluck Tee, ein Energieriegel hochkonzentrierten,
vakuum gepreßten, wenig schmackhaften Pulvers. Und wieder und wieder die Monotonie
des Gehens. Entnervend langsam spulen sich die Etappen ab. Jeder hängt in seinem
Geschirr, zieht und zurrt aus Leibeskräften seinen Schlitten über die bis zu 30cm
hohen windgepreßten Eis- und Schneelagen keuchend oft bis ans Ende seiner Kräfte.
Das wirklich Grausame an dieser Tour ist die unglaubliche Einsamkeit und Eintönigkeit.
Aber dennoch: Grönland ist eine Offenbarung! Wir sind begeistert von der auf den
ersten Blick so monoton aussehenden Landschaft dieser Eiswüste - tagsüber, wenn die
Sonne Farbspiele von unglaublicher Schönheit auf den weißen Schnee wirft oder abends,
wenn wir in das niedrige Gestirn hineinzulaufen scheinen. Hinzu konnnt das immer
wieder faszinierende Kontrastprogramm auf dem Inlandeis: dem fast tödlichen, bitteren
Schneesturm, dem man kaum etwas entgegenzusetzen imstand ist, folgt ein Hitzeschub.
Doch auch wenn die Temperatur in der Sonne auf plus l0°C hochschnellt, im Schatten
bleibt der klirrende Frost. An der Sonnenseite des Schlittens tropft Schmelzwasser,
die Schattenseite trägt einen permanenten Eispanzer. Vorne möchte man sich die

Wärmekleidung wegreißen, im Rücken friert der Schweiß oder umgekehrt. Und das zermürbt,
das zehrt. Wir sind mittlerweile dazu übergegangen, die Mitternachtssonne auszunutzen.
Wir starten kurz vor Mitternacht und gehen bis in den Vormittag hinein - als etwa von
23 Uhr bis 12 Uhr mittags. Der Start bei minus 25°C ist dabei das Unangenehmste.
Weiter und weiter! Let's go West. Täglich müssen zwischen 25 und 35 km geschafft
werden - das ist unsere Vorgabe. Die ersten 10 Tage bis zum höchsten Punkt des
Inlandeises vergehen leidlich schnell, aber dann mit Erreichung des Wendepunktes
sind zunächst einmal 'Dampf' und Spannung raus. Jeder Kilometer wird zur kraftzehrenden
Qual und 350 km liegen noch vor uns. Immer öfter bleiben wir während der Pausen einfach
in unserem Geschirr - zu müde, um uns auszuspannen. Vor uns an der Deichsel ist der
Halbkugelkompaß montiert, der uns den Weg durch die Eiswüste weist: 295° voraus, auch
wenn sich der Horizont bei Schlechwetter mit dem Schnee vermischt und das gefürchtete
"white-out" eintritt: orientierungslos stapft man umher, mit weit ausladenden Skistöcken
sucht man Balance zu halten, links erscheint rechts, oben und unten verschwimmen,
vermeintlich geht es rechts steil hinauf oder links steil hinunter - nur der ständige
Blick auf die tanzende Magnetnadel verhindert ein Gehen im Kreis. Ohne Navigation gibt
es kein Entkommen aus dieser Eiswüste, aus dieser Einsamkeit. Und hier zeigt sich der
ganz große Vorteil der Satelliten. Zu jeder Zeit - kann hier wetterunabhängig eine
zuverlässige Navigation durchgeführt werden, können die Fehlabweichungen beim Gehen
kurzmöglichst korrigiert werden, was mit Sextant Schlechtwetter oft tagelang nicht

möglich ist. Die Navigationsform bewährt sich bestens auch hier unter ungünstigen
Arbeitsbedingungen. Hinzu kommt das Laufrad, am Ende unseres Schlittens angebracht,
gekoppelt mit einem Fahrradcomputer. Er liefert täglich aufs Neue die notwendigen
Motivationsschübe in Form von gegangenen Kilometern - alleiniger sichtbarer Beweis,
daß man vorwärtskommt. Das Ablesen des Computers sowie die Satellitennavigation zur
Positionsbestimmung werden fast zur heiligen Handlung, die geradezu zelebriert, am
Ende einer jeden Tagesetappe steht. 80 km vor der Westküste wird das Wetter
besorgniserregend schlecht, es schneit - ja, es regnet fast, die Temperatur liegt
nahe dem Gefriepunkt, tags wie nachts. Das Gehen wird immer mühsamer, die Schlitten
sinken tief ein, ihre Gleitfähigkeit läßt mit zunehmender Schneefeuchtigkeit erheblich
nach. So wird das Ziehen immer beschwerlicher, zudem stollen die Felle gleich
zentimeterdick. 10 bis 15 km Strecke sind mittlerweile eine stolze Tagesleistung.
Hinzu kommt die nasse Kälte, die unsere letzten Reserven aufsaugt. Aber jeder Weg
hat ein Ende - auch der wochenlange Marsch durch das Inlandeis Grönlands. Irgendwo
wird die erste Gletscherspalte einmal auftauchen, sichbares Zeichen, daß sich das
Inlandeis zur Westküste hin schneller senkt und bald das erste Land in Sicht kommen
muß. Fünf Tage dauert das zermürbende 'white out', dann bessert sich das Wetter und
mit ihm unsere angeschlagene Stimmung. Nie hatten wir geglaubt, daß ein einziger,
kurzer Sonnenstrahl, ein winziger blauer Fleck am Himmel zu solch einem Stimmungswechsel
in der Lage sind. Endlich - die erste Gletscherspalte. Wir sind am Ziel! In Nuuk tobt
ein heftiger Sturm, die kurzen Zwischenhocheinbrüche reichen nicht aus, um uns mit dem

Helikopter abzuholen. Aber der tägliche Funkkontakt über die großen Airliner zur
Bodenstation in Nuuk klappt vorzüglich. Die Verbindung zur Außenwelt ist damit wieder
hergestellt. Am dritten Tag endlich, am 16. Juli, wird uns der Bell 212 für 17 Uhr
angekündigt. Punkt 16.52 Uhr hören wir das Motorengeräusch, jetzt erst erfolgt der
befreiende Luftsprung. Wir liegen uns vor Freude in den Armen, zünden die Leuchtraketen
und schämen uns keineswegs, ein paar Tränen in den Augen zu zeigen. Die offiziell
registrierte Zeit für die Eiskappendurchquerung. Die Satellitennavigation hat es in
erster Linie ermöglicht, eine bestechend gerade Marschlinie durch das Inlandeis zu
legen. Sie hat eine schnellere Durchquerung erlaubt und damit neue Dimmensionen in
puncto Sicherheit gesetzt. Grönland ist jede Anstrengung wert. Was bleibt, sind die
Erinnerung an die Faszination des Inlandeises, die Sonne, das unendliche Weiß, der
blaue Himmel im Wechsel mit dem tückischen 'white out' und das Fjell, das große
Schweigen. Wer einmal in Grönland war, wird zurückkehren - das behaupten die
Grönländer zu Recht und voller Stolz. In seinem Buch 'Mit Schneeschuhen durch
Grönland' hat es Fridtjof Nansen so treffend formuliert:
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Hast du das große Schweigen erlebt,
hast du gewagt, das Unbekannte aufzusuchen.
Unbekannte Wege begangen,
die weißen Flecke der Karten gekreuzt,
hast du entbehrt, gedürstet, gesiegt,
bist du aufgegangen in der Größe des Alls?
Hast du Gott in seiner unendlichen Größe gesehen,
den Text gehört, den die Natur dir predigt?
Dann lausche auf die Weite,
sie ruft dich zurück!
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© Februar 2003
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