Von Ulrich Schum
28. Dezember, Mitternacht, 82. Breitengrad Süd : die schwere 4-motorige DC 6 -
Baujahr 1953 - setzt ruckartig auf dem blanken Eis der Antarktis auf. Holpernd
und schlingernd durch die böigen Seitenwinde - kaum im Geradeauslauf zu halten -
kommt der stark überpowerte und für extreme Kältegrade umgerüstete
Oldtimer zum Stehen. Schon beim Sprung aus der Ladeluke wird uns klar: hier ist der Teufel
los, -22°C, Sturmböen bis zu 70 km/h, messerscharfe Eiskristalle peitschen uns
ins Gesicht. Auf dem blanken Eis kann man sich kaum aufrecht halten! Bruce, der

amerikanische Pilot, vollbringt hier Meisterleistungen - ohne Kufen landet
er mit Ballonreifen hier nur wenige hundert Kilometer vom Südpol entfernt in
der Eiswüste. 9 Stunden dauerte der Flug von der Südspitze Chiles (Punta Arena).
Im Frachtraum - für Passagiere mit wenigen spartanisch ausgestatteten Sitzreihen
bestückt - muß während des spektakulären Fluges die gesamte Daunenausrüstung und
der Schlafsack getragen werden. Weitere Biwakausrüstung muß unter dem Sitz
bereitgehalten werden. "Für die Notlandung," grinst Bruce. Es ist sein 22. Flug in
die Antarktis. Am Landeplatz wird nicht geredet. - Zu kalt. Alles läuft automatisch
ab: Benzinfässer fallen aus der Ladeluke, mit dem Handkompressor wird aufgetankt,
Bruce macht einen Außencheck. Eingehüllt in dicke Daunen, das Gesicht durch die
Neoprenmaske verdeckt, fummelt er mit dicken Handschuhen hier und dort, dann ein
kurzes "good luck" zu uns herüber und schon hangelt er sich, wieder durch die
Ladeluke hinauf ins Cockpit. Der Start ist so abenteuerlich wie die Landung. Bis
wir aus dem Staunen herauskommen, ist Bruce am Himmel verschwunden. Unheimliche
Stille um uns herum. Das Abenteuer beginnt. Wir arbeiten uns buchstäblich durch
Eis, Sturm und Schnee von der Landzone zur 2 km entfernten Basis der Kandadier,
der letzten Bastion vor dem Südpol: 4 winzige Punkte am Horizont - kaum auszumachen.
Ein Messezelt, 2 Schlafzelte und das wichtige Zelt für die Wartung des
Maschinenparks. Kaum mehr als eine Handvoll Männer: Kanadier, ein Neuseeländer
und ein Grönland Eskimo bilden hier ein Team, welches fast unmenschliches leistet:

während der Sommermonate von November bis Februar eine Ministation gegen Eis und
Sturm zu verteidigen. Der Eskimo schläft sogar in seinem Heiligtum - dem Maschinenzelt.
Auf dem Kraftfahrzeugsektor ausgebildet, ist er mittlerweile einer der begehrtesten
Flugzeugmechaniker bei Kälteeinsetzen. Die Station Patriot Hills ist so etwas wie
ein Umschlagplatz für Wissenschaftler, die zu ihren Stationen weitergeflogen werden,
für Rettungsflieger und für Verrückte, die im tranksarktischem Gebirge Bergsteigen
wollen. Unweit von der Station entfernt liegt nämlich der höchste Berg der Antarktis
der Mount Vinson, 5140m hoch. 1966, zu einem Zeitpunkt, als die höchsten Berge aller
Kontinente längst bestiegen waren - gelang einer großangelegten amerikanischen
Expedition unter der Leitung von Dick Bass die Erstbesteigung. Dann trat wieder
Ruhe am Berg ein: erst 1986, nach Eröffnung eben dieser kanadischen Station im
antarktischen Eis, wurde der Gipfel das zweite Mal bestiegen u.a. war mit Gerd
Schmatz der erste Deutsche erfolgreich. Nun treten wir an. Partner ist Heini Koch
aus München, in allen Gebirgen der Welt fast schon zu Hause. Beim Abflug antworte
er einem Journalisten auf die Frage, ob er denn wisse, was ihn in der Antarktis
erwarte: "Nein, deswegen fahre ich ja hin!" Der Pilot der kleinen Monotter gibt
dem Aut-Pilot die Koordinaten des Berges ein und bringt uns sicher zum Ausgangspunkt
100km vom Berg entfernt. Ein näherer Anflug wäre zu riskant. Die Maschine leistet
ohnedies Enormes: zur Gewichtseinsparung hat nur noch der Pilot einen Sitz, wir
kauern auf unseren Rucksäcken und Schlitten. Bei laufendem Motor wird ausgeladen,
die Maschine auf dem leicht ansteigenden Gletscher um 180° gedreht, 100m Anlauf
und schon schwebt sie mit einer Abschiedskurve über unseren Köpfen hinweg.
Kartenmaterial von dieser Gegend gibt es nicht. Eine Handskizze wird von Expedition
zu Expedition weitergereicht und so langsam vervollständigt. Die 100 km zum

Bergmassiv sind schwer zu navigieren. Verschiedene kleine Bergmassive müssen
umgangen werden, stark vergletscherte Passagen sind zu meistern. Satellitennavigation
(GPS) ist das Geheimnis unserer zuverlässigen Navigation durch diese Eiswüste. Die
Sichtweiten betragen oft nur wenige Meter. Grund hierfür sind alleine die
aufgewirbelten Eiskristalle in der Luft. Schon Messner 1989 bei seiner Südpolexpedition,
als auch wir im gleichen Jahr bei unserer Grönlanddurchquerung haben die
Satellitennavigation durch Eiswüsten erstmals erfolgreich eingesetzt. Heute stehen
noch verbesserte Geräte zur Verfügung, mit denen wir nicht nur die Längen- und
Breitengrade exakt bestimmen können, sondern auch die Höhe über dem Meeresspiegel
kann auf 3 - 5m genau gemessen werden. Damit haben die üblichen terrestrischen
Navigationsgeräte, wie auch der barometrische Höhenmesser zuverlässige Nachfolger
gefunden. Die unzähligen Gletscherspalten überqueren wir mit spezial angefertigten
Aluminiumleitern, die genau auf die Schlittenbreite und unsere Schrittlänge konzipiert
sind. Damit sind wir nicht nur wesentlich sicherer, sondern auch schneller. Dennoch
passiert es: in Lager III in 3900m Höhe, ein unvorsichtiger Schritt und mein Partner
verschwindet in einer überschneiten, nicht sichtbaren Spalte - ein kleines schwarzes
Loch bleibt zurück. 2 Meter neben unserem Zelt! Für Sekunden stockt mir der Atem,
der Puls schnellt merklich in die Höhe, furchtbare Gedanken jagen mir durch den Kopf,
dann der erlösende Schrei aus der Tiefe: "Nix passiert, Seil runter - ich hänge fest!"
In 6m Tiefe in der Spalte eingekeilt. Was wäre, wenn die Spalte nur einen Meter
breiter gewesen wäre? - Nicht auszudenken. Nach geglücktem Ausstiegsmanöver mit
zerrissenem Daunenanorak, einigen Schürfwunden und blaß im Gesicht stellt er fest:

" 'ze fix nirgens in dera Welt bist sicher!" Eine Woche leidlicher Wind - wir kommen
gut voran. Dann holt uns der so gefürchtete Sturm am Südpol doch noch ein. Für 4
Tage sitzen wir fest. Wir bauen den Schutzwall um unser kleines Zelt festungsartig
aus. Den ganzen Tag über sägen wir Eisblöcke 100 x 50cm. Eine mühsame Arbeit bei
orkanartigen Stürmen und -28°C. Sägen, sägen, sägen. Aber es lohnt sich. Im
Inneren sind wir ziemlich sicher. Endlich wird uns per Funk von der kanadischen
Basis eine kurze Wetterbesserung gemeldet. "Für 24 Stunden maximal", krächzt es
aus dem Mikro - weiter verstehen wir nichts. Also blicken wir zum Südpol. Von
dorther müßte die Besserung kommen. Es gilt den richtigen Moment abzuwarten. So
früh wie möglich müssen wir losgehen. Der Weg zum Gipfel ist noch weit. Alleine
bis zum Felsaufbau sind es noch gut 10 km. Dann folgt die luftige Kletterei
über den Eis- und Felsgrat zur Spitze aus Eis und Schnee, gerade Platz genug
für zwei. Für wenige Minuten bleiben wir oben und schauen zum Südpol herüber,
für sentimentale Einblendungen bleibt keine Zeit. Ein langer Abstieg steht
bevor, und die Zeit drängt. Ein Rennen gegen den nächsten Eissturm. Schon
bauen sich riesige Eiskristallwolken über den umliegenden Gipfeln auf -
untrügliches Zeichen des nahenden Sturmes. Erst im Basislager atmen wir kräftig
durch. Ruhe kehrt ein, und die Spannung löst sich langsam. Erstmals können wir
uns über den Erfolg freuen. Eines haben wir dazugelernt: In der Antarktis ist
der Mensch nur für kurze Zeit geduldet. Wir haben Glück gehabt, wir gehörten dazu.