Von Roland Hofmann
Am 30.03.92 nach Mittag checken wir im Flughafen Riem ein. Der Flug bis Stockholm
dauert ein Essen lang. Bis 20 Uhr warten wir auf den Weiterflug nach Kiruna mit
Zwischenstopp in Lulea am Nordzipfel der Ostsee.
22.30 Uhr: Turbinenheulen, durch die Bullaugen des Fliegers: Nacht. Rote und
weiße Positionslichter der Startbahn; ich sehe in deren Schein, von starkem Wind
gejagt, waagrechte Schneespuren. Die Maschine rollt zur Enteisungsanlage.
Gleißendes Licht; Glykolschwaden überziehen das Leitwerk. Langsam überfährt
die Sprühbrücke das Flugzeug. Funktionstests der Leitwerke. Wir rollen in

Startposition. Wieder alles in Dunkelheit, nur waagrechte Schneespuren vor den
Fenstern. Ein flaues Gefühl: Da waren doch neulich Flugzeugabstürze wegen vereister
Tragflächen ?! Turbinen heulen auf, extatisches Brüllen, Beschleunigen, heftiges
Rumpeln über die schneeige Startbahn. Ich werde in den Sitz gepreßt, jetzt zieht
die Maschine hoch, nur noch Fluggeräusche - Erleichterung.
23.30 Uhr: vor dem Flughafen Kiruna. Ein Bus steht da. Gepäck in die Stauräume - Frage
an die Fahrerin: "Wie kommen wir in das Sportcamp?" - "Ich fahr' euch da hin(!)",
verstehen wir das englisch/schwedische Radebrechen. Und ja! Sie macht einen Abstecher
von ihrer Busroute und hält, und wir laden alles aus. Danke!
Um Mitternacht stehen wir sechs frühjahrsgekleidete Gestalten im polaren Wind auf
einer vereisten Kreuzung in einem Vorort von Kiruna. Dunkel, kalt, abweisend, keine
Hilfe in Sicht. Wo ist ein Telefon? - Gleich kommt der Campwärter, bringt die
Schlüssel. Wir erobern die beiden gut warmen Appartments und holen als erstes aus
den Seesäcken Kocher und Verpflegung für die Mitternachtsparty.
Dienstag 31.03.: im Zug. Die Bahnlinie schlängelt sich nach Nordwesten ins Fjäll.
Verschneite, sanfte Rücken mit kahlen Birkensträuchern ziehen ruhig am Fenster vorbei.
Es sieht aus, als habe die bleiche Haut der Erde einen 3-Tage-Stoppelbart. Vor
Station Riksgränsen, nahe der schwedisch/norwegischen Grenze steigen wir aus. Hier
wartet unser fjällkundige Führer Bob aus Holland. Frage: "Jetzt noch losgehen?" Eine
schnelle Zeitplanung ergibt, die Spanne bis zur Dunkelheit ist zu kurz, um noch eine
Hütte, einen Windschutz zu errichen. Wir müssen ins Sporthotel nach Riksgränsen. Nach
üppigem Brunch werden Skier angeschnallt und die Rucksäcke auf den Rücken gewuchtet,
und entschlossen ziehen wir los. Zwei von uns sind mit Langlaufskiern angetreten, die
anderen mit schweren Tourenbrettern mit Steigfellen. Erste Versuche mit Steigwachs
statt mit Fellen. Die Schneetemperatur wird falsch eingeschätzt - die Skier rutschen
in die falsche Richtung. Eine andere Wachsfarbe kommt dran. Bei einigen bleibt Skepsis:
Lieber mit Fellen schinden als sowas Neues nehmen! Doch nach ein paar Tagen wollen alle

lieber Wachs statt Felle. Es heißt Kräfte sparen und besser gleiten. Wieder was gelernt!
Das erste ernste Problem direkt an der offenen norwegischen Grenze. An Helmut's
Langlaufbindung bricht der Bügel! Soll er umkehren? Wollen wir nicht! Mit Schnüren und
Draht wird ein immer wieder rutschendes Provisorium an den Fuß gebastelt, und mit
Verzögerungen geht es weiter. Langsam zieht die Loipe bergauf. Die Wolken nähern sich
dem Boden. Ein starker Wind treibt böig pfeifend die Schneeflocken an uns vorüber. Ein
Motorknattern kommt näher. Es sind zwei Motorschlitten der norwegischen Grenzwacht. Sie
erkundigen sich, ob alles in Ordnung ist. Es geht weiter. Schon in der Dämmerung erreichen
wir den Windschutz. Ca. 3 Stunden haben wir länger gebraucht als angenommen. Aber in der
kleinen Hütte sind wir sieben nicht allein. Drei junge Deutsche mit vollen Seesäcken haben
sich schon ausgebreitet. Der Kocher wird angesetzt und die Fertigverpflegung mit
angewärmtem Schneewasser übergossen. Eine schwer verdauliche Pampe läßt einige an dem
Erfolg der nächsten Tage zweifeln. Wie Sardinen liegen wir auf dem nassen Holzboden und
haben Schwierigkeiten mit dem Schlaf. Oh! mein altes Kreuz - wenn das so weitergeht
jeden Tag!?
02.04.: Am Morgen fällt mir das Einsteigen in die feuchten Schuhe und auf die Skier schwer;
gut, daß es erst einmal einen Abschnitt bergab geht. Da kann ich unterm Gleiten die
widerspenstigen Muskeln ein wenig warm machen. Dann bin ich wieder "drin", die Spur zieht

jetzt auch bergauf, und dann folgt die fast alpine Abfahrt ins weite Tal des Abiskobachs.
Hier unten begegnen wir geführten Langlauftrupps, die grellfarbig uniformiert sind; sie
befinden sich auf dem originalen KUNGSLEDEN. Wir waren zuvor eine Variante über die Berge
gelaufen. Nach einer Rast in der Allaka-Hütte gehen wir zäh wieder los, den Berg hoch. Nach
einer Stunde erreichen wir eine Einsattelung, abwärts geht's und wieder hoch. Dann liegt
vor uns eine weite Mulde, die in der Ferne stetig ansteigt. Völlig frei kann hier der eisige
Wind durchblasen. Die Wegpfähle leiten die Augen zu einem fernen Joch: da müssen wir hin!
Der bitterkalte, steife Wind zusammen mit Schneetemperaturen unter -18° C läßt das Gleitwachs
unter den Skiern nicht mehr wirken - neues Wachsen mit klamm werdenden Fingern: du mußt dich
bewegen, daß du nicht zu stark frierst, und dann wieder weiter. Hinter dem Joch läßt der
Wind nach. Bergab schlittern wir über vereiste Windgangeln; die Stahlkanten helfen kaum.
Nach dieser Strapaze erreichen wir dann in der ersten Dämmerung drunten am gefrorenen See
die Alesjaure-Hütte. Für heute reicht's mir. Echt!
Heute eine angenehme Etappe zur Tjäktja-Hütte. Der Weg zieht durch ein Tal, und in der
Ferne auf einem Vorberg zum Tjäktja-Passet erkennt man die Hütte. Am folgenden Tag fällt
es etwas leichter. Die Spur führt hinauf zum Paß (ca. 1160m) und fällt dann weit in
leichten Wellen wieder ab. Auf halber Tagesstrecke liegt die Sälka-Hütte, wo wir rasten
und einige Lebensmittel, wie z. B. Bier, kaufen. Weiter geht die Spur bergab an einem
Windschutz vorbei, und vor der Samensiedlung Kartjevuolle scharf bergan, und schon liegt
unser Tagesziel, die Singi-Hütte, vor uns.
05.04.: Drei von uns (Hans, Fritz, Bob) wollen heute den höchsten Berg Schwedens angehen;
die anderen haben Ruhetag. Spät, schon in der Dämmerung, kommen sie erfolgreich zurück.
Ermuntert von dem Erfolg der Vorigen gehen am nächsten Tag Theo und Christine los und
wollen das Erlebnis nachholen. Sie folgen jedoch einer falschen Spur und besteigen einen
anderen Gipfelpunkt. Am Morgen verläßt uns auch Bob, unser Führer. Sein eigener Weg geht
in Richtung Narvik; er will sogar bis nach Hammerfest hoch. Viel Glück und danke! Aber
da ist noch einer, der hat an den beiden Tagen Pause gemacht und die Berge nur von unten
angeschaut: der Roland.
06.04.: Ich gehe um die Hütte spazieren, die Sonne meint es gut. Es dürften gegen Mittag
Plustemperturen sein, so warm wirft sie, noch gespiegelt von den gleißend hellen
Schneeflächen benachbarter Hänge, ihre Strahlen in das friedliche Tal. Es geht kein Wind,
kein Lüftchen. Ich setze mich auf einen flechtenbewachsenen Stein und schaue und lausche -
meine Augen folgen den Kammlinien der Hügel und durch die Talsenke über die Samenansiedlung
bis zum Horizont. Ich lausche - bedrückende Stille - kein Windlaut, kein Vogel, kein
Schritteknirschen im Schnee, keine Motorgeräusche, kein Menschenlaut, einfach: endlose

Stille - ich sitze starr, atme nicht und bin berauscht von Stille. Gemeinsam ziehen wir
weiter durch ein Trogtal; zwischen steil aufragenden Wänden erkenne ich Gipfel, die 1000m
über uns thronen. Dann wird es sonnig, das Tal weitet sich, und oben am Hang sieht man
mehrere größere Bauten. Wir spurten den Hang hinauf und stehen vor der Kebnekaise-Fjällstation.
Welcher Luxus nach 6 Tagen kargen Lebens. Ein Pensionshotel mit Gastronomie, Einkaufsshop,
Selbstversorgerräumen und sogar Saunen. Das wird natürlich genutzt. Bis hier bringen
Motorschlitten die Gäste und ihr Gepäck. So gewöhnen wir uns wieder an die Zivilisation.
Am anderen Morgen ziehen wir unsere Spur nach Osten zur Station Nikkaluokta und laufen
dabei etliche Kilometer auf einem gefrorenen See. An der Station werden wir auf zwei nette
kleine Blockhäuschen verteilt. Etliche davon bilden das Ensemble einer campingplatzartigen
Anlage.
09.04.: Früh bringen wir alles gepackt an die Straße. Zuverlässig kommt der Bus. Er bringt
uns nach Kiruna zurück, macht unterwegs Abwege zu weit von der Straße entfernten Siedlungen.
Besonders lustig fand ich es, wenn der Fahrer etwas die Fahrt verlangsamend das Fenster
öffnete und die Tageszeitung in hohem Bogen durch die Fenster schmiß, immer da, wo ein
einsamer Siedler wohnte. Tatütata, die Post war da! Wir kamen früh in Kiruna an, zogen
wieder in die reservierten Camps und machten dann ausgedehnte Einkaufsbummel in die Stadt.
Für abends wurde ordentlich eingekauft, und unter der Regie von Christine gab es ein
Abschlußmahl. Prima war's! Weil wir nicht wissen, wo und wann ein Bus weggeht, schleifen
wir unser Gepäck am Freitag morgen zum Bahnhof, wo uns dann gelegentlich der Airportbus
aufliest. Kurz nach Mittag heben wir ab und überfliegen das sonnenbeschienene Nordschweden
mit Stop in Stockholm. In der Dämmerung geht's weiter, und etwa um 20 Uhr landen wir mit
allem Gepäck wohlbehalten wieder in München. Zum Abschluß folgt noch eine Wiedersehensparty
mit den Familienangehörigen bei Hans.